disadorno edition



[...] Irgendwo in der besetzten Sowjet­union im Mai 1942. Fünf russ­ische Halb­wüchsige rei­ten jeden Tag ihre Pferde zum Trän­ken. Die Sol­daten der deutschen Artil­leries­teI­lung win­ken ihnen zu, sie win­ken zu­rück. Eines Tages zer­reißt Kanonen­donner die Stille, die Jungen und die Pferde sind ver­schwun­den, zer­fetzt, zer­streut, aus­radiert. Der Bat­terie­chef hat seine Ge­schütze ein­schießen las­sen. Szenen­wech­sel. Kriegs­gefangene auf dem Küh­ler und den Kot­flügeln eines Trans­por­ters. Der Wagen fährt an, beschleunigt, schleu­dert die Klammern­den in rasendem Tempo in die Luft und zur Seite. Schüsse. »Auf der Flucht er­schos­sen«, lautet der Ein­trag ins Kriegs­tage­buch. Letz­tes Bild: Män­ner stehen in einem Teich, Juden. Im Halb­kreis am Ufer Bewaff­nete. Die Juden bücken sich, tauchen nach etwas, wer hoch­kommt und hat nichts in Hän­den, wird mit Kopf­schuß er­ledigt. Im Was­ser sol­len er­mordete Kamera­den und de­ren Waffen liegen, sagen die SS-Leute, grin­sen und schießen. Die sich an solches er­innern, sind ehe­malige Land­ser. Ihre Berichte sind ab­gefaßt wie Schul­auf­sätze, unge­lenk, mit Fehl­ern, meist nicht länger als zwei Seiten. Das Thema: Verbrechen und Greueltaten der deutschen Wehrmacht an der Ostfront. Manchmal sind es die eigenen Taten, oft die von Kamera­den, aber immer waren die Schrei­ber Augen­zeugen. Sie nennen Namen und Dienst­grade, be­teiligte Ein­hei­ten und wo sie in Stel­lung lagen. Ver­faßt wur­den diese Berichte im Kriegs­gefangenen­lager, zu­meist im Jahre 1943, in der Zeit der be­ginnen­den Rück­züge.
 Was deut­lich wird in diesen Berich­ten, ist ein Krieg, der keinem der vor­herigen ähnelt. Es scheint nicht um mili­tärische Siege zu gehen, eher um Demons­tra­tion und Aus­kosten von Macht: wenn in einem Dorf sämt­liche Männer zwischen 16 und 60 Jahren er­schos­sen oder 150 Männer immer je zwei an einem Baum einer Allee auf­ge­hängt werden, als Strafe für einen An­griff auf deutsche Waffen­träger. Rache und Wut sind im Spiel, wenn die Be­wohner einer ganzen Stadt als Geiseln genommen und ab­ge­schlach­tet werden oder ganze Ge­biete beim Rück­zug in Flammen aufgehen. Vor allem der Kampf gegen die Parti­sanen lebt von diesen Ge­füh­len: den harten, be­waff­neten Kern be­kommt man trotz pausen­loser Militär­aktion­en nicht zu fassen, also ver­beißt man sich ins Fleisch der un­geschütz­ten Dör­fer, mordet Frauen und Kinder, Kranke und Greise.
 Alle priva­ten Kriege dür­fen hier ge­führt wer­den, das Ge­wissen ist dis­pensiert, und Tradi­tio­nen haben ihre Gültig­keit ver­loren. Die Topo­graphie dieser Gegend ist un­scharf, inten­siv zu spü­ren aber ist der Schrecken und die Faszi­nation, die das Wort auslöst »die Ost­front«. Fast wie Ver­schwörer tref­fen sich die Krie­ger, Stunden vor Beginn des Feld­zugs, in Scheunen und auf offe­nem Feld, um Parole zu be­kommen: »Die Kommis­sare, kennt­lich am Sowjet­stern auf dem Ärmel, seien wahre Teufel in Menschen­gestalt u. ohne weite­res zu er­schießen.« Oder: »Stets zu er­schießen sind Frauen, die in der Roten Armee dienen.« Oder: »Gefangene dürfen nicht ge­macht werden, es wären un­nötige Esser u. über­haupt eine Rasse, deren Aus­rottung ein Fort­schritt sei.« [...]
 [...] Die Auf­zeich­nungen seines Groß­vaters bilden für Jakob Gleis­berg die Grund­lage und den Aus­gangs­punkt für dieses Buch­pro­jekt. Da sie nicht ab­ge­druckt wer­den, blei­ben sie »privat« und dadurch aus­schließ­lich einer per­sön­lichen Aus­einander­setzung vor­behal­ten für die Ent­stehung dieser Arbeit sind sie aber von emi­nen­ter Be­deutung. Von Okto­ber 2005 bis Januar 2006 be­reist er des­halb jene Städte und Orte in Polen, Bela­rus und der Russischen Föde­ration, in denen sein Groß­vater als Wehr­machts­soldat ein­gesetzt wurde und doku­mentiert diese Reise mit der Kamera. Dabei ent­steht eine Art »foto­grafisches Gedächt­nis«, das stark von der per­sönlichen Aus­einander­setzung mit dem Thema bestimmt wird die Bild­inhalte fol­gen weniger einer objek­tiven, als umso mehr einer subjek­tiven Strate­gie. Die sich dabei fort­schreibende foto­grafische Erzäh­lung be­dient sich einer sub­tilen »Grammatik«, um da­durch über die Summe der ein­zelnen Auf­nahmen hinaus als eine Geschichte er­schließ­bar zu wer­den. Er will nicht ur­tei­len, er will ver­stehen konse­quenter­weise sind des­halb seine foto­grafischen Zitate eben kein moralischer Finger­zeig, viel­mehr ver­deutlichen sie die Be­tonung des sub­jekti­ven Gedankens. Ihm war sehr wohl bewusst, dass die gewählte Thematik viele Schwierig­kei­ten mit sich bringen würde im besonderen auch jene der Rezep­tion, seine Arbeits- und Herangehens­weise bleibt dennoch offen und dialog­bereit. Daraus hervor geht ein Essay, der aus einer inne­ren »Folge­richtig­keit« ent­stand keinem dogma­tischen Kon­zept bzw. keiner ge­dachten Vor­gabe folgt, sich nicht unter­ordnet. [...]
 Roland Barthes schreibt in seinem Werk: Die helle Kammer [...] Die »Photo­graphie« sagt (zwangs­läufig) nichts über das, was nicht mehr ist, son­dern nur und mit Sicher­heit etwas über das, was ge­wesen ist. Dieser feine Unter­schied ist aus­schlag­gebend. Beim An­blick eines Photos schlägt das Bewußt­sein nicht unbe­dingt den nostalgischen Weg der Erinne­rung ein (wie viele Photos stehen außer­halb der indivi­duellen Zeit), son­dern, bei jedem über­haupt auf der Welt existieren­den Photo, den Weg der Gewiß­heit: das Wesen der »Photo­graphie« be­steht in der Be­stätigung dessen, was sie wieder­gibt. [...]

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bodo
Herstellungsinformationen und technische Daten
Alle Aufnahmen entstanden mit einer Penta­con Six und Farb­negativ Film­mate­rial von Fuji und Kodak. Ge­druckt wurde auf einer Heidel­berg Speed­master 70/100 und 50/70 bei H&P Druck in Berlin. Papier war »Munken Print White« 100 gm/2 und 150 gm/2 von Igepa für den Inhalt und »caribic« in 1oo gm/2 von Igepa für das Vor­satz, Mate­rial für den Um­schlag war »Korsnäs Supreme Kraft­liner« 175 gm/2 eben­falls von Igepa – gebun­den wur­den die beiden Bände bei der Leip­ziger Kunst- und Verlags­buch­binderei. Ver­wendete Schrif­ten waren die »Univers« von Adrian Frutiger und die »Con­corde« von Günter Gerhard Lange. Adrian Frutiger gilt als einer der bedeutendsten Schrift­gestal­ter des 20. Jahr­hunderts. Er zählt zu den maß­gebe­nden Schöpfern der Schweizer Typo­grafie. Günter Gerhard Lange war ein deutscher Typo­graf und Leh­rer. Er war lang­jähriger künstle­rischer Leiter der H. Berthold AG. Er gilt als einer der welt­weit bedeutendsten Typo­grafen, Förderer der Schrift­qualität und Schrift­gestal­ter des 20. Jahr­hunderts, der ins­besondere die Schrift­gestal­tung nach 1945 prägte. Zu den bekanntesten seiner Schrift­familien gehören Con­corde, Con­corde Nova, Franklin-Antiqua, Garamond (Neu­schnitt), Wal­baum (Neu­schnitt), Caslon (Neuschnitt), Berthold Imago, Basker­ville (Neuschnitt), Bodoni Old Face, Whittingham.